Tabu-Bruch – Psychisches Leiden im Spitzensport

Schneller, höher, weiter! Spitzensport lebt davon. Optimieren, wo es nur geht. Stark sein, um zu leisten. Leisten, wann immer möglich. Eingestehen, dass man nicht stark sein kann? Für lange Zeit war dies Fehl­anzeige. Und heute?

Orientierungsläufer Florian Schneider aus der Schweiz, Tennisspielerin Naomi Osaka aus Japan und Turnerin Simone Biles aus den USA – alle drei haben sich öffentlich zu ihren psychischen Leiden geäussert. Depressionen, Vergewaltigungs-Skandale im Verband…

In den letzten Jahren fällt auf: Spitzensportler/-innen brechen das Tabu, immer stark sein zu müssen. Sie zeigen ihre menschliche Seite und stehen zu ihren psychischen Leiden und Herausforderungen. Psychische Krankheit im Leistungs- und Spitzensport wird (endlich) enttabuisiert. Hilfe in Anspruch zu nehmen wird selbstverständlicher und ist immer weniger mit «Psycho sein» verknüpft. Was ist aber psychische Gesundheit im Leistungssport?


(Simone Biles, Rio 2016 – Wikimedia Commons)

Die aktuell weltbeste Kunstturnerin Simone Biles sagt: «Letztlich sind wir auch einfach Menschen. Wir müssen unsere Psyche genauso schützen wie unseren Körper. Anstatt ausschliesslich das abzuliefern, was die Welt von uns erwartet.»
(Twitter Associated Press @AP, 27.7.2021, Übersetzung SRS)


Mikaela Shiffrin (unser Titelfoto, auf Podestmitte) ist nicht permanent die strahlende Siegerin. Nach ihrem Out in Peking 2022 sagt sie: «All diese Kommentare nach einem Misserfolg, die einen sehr persönlich treffen, ganz klein machen und ins Gefühls-Elend stürzen: Es ist DEIN Entscheid, was du daraus machst. Aufgeben, sogar aufhören mit Sport? Besser ist: Nicht zuhören, keine Zeit für negative Leute verschwenden. Am nächsten Tag weiter kämpfen, deine Werte und dein inneres Feuer weiter­geben.»
(Instagram-Clip @mikaelashiffrin 18.2.22 – Über­setzung SRS). Fotomontage Titelfoto: Denys Nevozhai on Unsplash und Wikimedia Commons


Ganzheitliche Gesundheit aus sportpsychologischer Sicht

Psychische Gesundheit ist für Athleten/-innen essentiell. Sie bedeutet, erfolgreich psychisch zu funktionieren und erfolgreich Leistung zu erbringen. Dies führt zu zielorientierten und gewinnbringenden Aktivitäten und erfüllenden Beziehungen mit anderen Menschen. Zusätzlich ist es die Fähigkeit, sich auf Veränderungen einzustellen und schwierige Situationen, auch Krisen meistern zu können (Schinke et al., 2017). All das, um einen Zustand von bestmöglichem körperlichem, seelischem und sozialem Wohlbefinden zu bewahren oder wiederherzustellen (s. WHO, 2014). Es geht also um mehr, als nur das «Fehlen einer Krankheit» oder um die Leistungserbringung im Sport.

Psychische Gesundheit versteht sich mittlerweile nicht mehr als zwei gegenteilige Zustände «psychisch gesund vs. psychisch krank». Vielmehr ist es als ein dynamisches Kontinuum zu verstehen, auf welchem wir uns ständig bewegen. Mal mehr zur psychischen Gesundheit, mal mehr zur Krankheit. Und wenn das eine vorhanden ist (bspw. Wohlbefinden), heisst es nicht, dass das andere (bspw. Schmerzen im Körper) abwesend ist. Es geht darum, inwiefern die Ressourcen und Kompetenzen eines Menschen helfen, mit den Auswirkungen und Aspekten des Leidens und der Herausforderungen umzugehen. Dies gilt ebenso für Sportlerinnen und Sportler. Das widerspricht dem gängigen Bild der Sportler, immer stark sein zu müssen und keine «Schwäche» einzugestehen.

Von gesund zu krank im Leistungssport

Denn in der Karriere eines Leistungs- und Spitzensportlers gibt es verschiedene Situationen und Lebensumstände, die die psychische Gesundheit besonders gefährden können.
Schauen wir zuerst das grössere Bild des Sportlers an, seine Lebens- und Karriere­entwicklung. Die Sportpsychologie versteht die Sport-Karriere als Teil des ganzen Lebens und nicht als das ganze Leben. Die Entwicklung einer Karriere und eines Lebens ist geprägt von verschiedenen wichtigen Übergängen und stressvollen Situationen. Solche wichtigen zu lösenden Situationen sind zum Beispiel Verletzungen, neuer Kader-Status, Karriere-Ende, Ausbildung und Sport gleichzeitig ausüben, Heirat, Scheidungen usw. All diese Situationen sind geprägt von erhöhter psychischer Belastung – gedanklich, emotional und im Verhalten, positiv oder negativ.

Auch im Alltag erlebt der Sportler unterschiedliche Höhen und Tiefen. Denn die Leistung eines Sportlers beschränkt sich nicht nur auf den Wettkampf selber, sondern ist auch abhängig von der Gestaltung des Trainings, der Vor- und Nachbereitung auf einen Wettkampf oder der Erholungsphasen. Auch in diesen verschiedenen Phasen laufen psychische, physische und soziale Prozesse ab, die die psychische Gesundheit destabilisieren können.

Wie ordne ich als Athlet/-in vor einem Wettkampf beispielsweise die Erwartungen von aussen ein, damit sie mich seelisch nicht zu stark belasten? Wie kann ich während einem Wettkampf mit Frustration umgehen, sodass sie mich nicht zerstört? Wie verarbeite ich einen gelungenen oder misslungenen Wettkampf hilfreich, sodass ich gestärkt daraus hervorgehe? Wie gestalte ich die Belastung und Erholung, sodass ich bspw. nicht in ein Übertraining / Überlastung gerate?

Eine erfolgreiche Sport- und Lebenslaufbahn ist u.a. davon abhängig, wie wirksam die Entscheidungen in solchen Situationen gefällt werden, wie erfolgreich Athleten diese Hauptübergänge im (Sportler-)Leben und die alltäglichen Stresssituationen meistern. Ob dies gelingt? Das ist davon abhängig, ob ein Athlet Ressourcen mitbringt oder sich Strategien angeeignet hat, die in diesen Momenten helfen. Ist dies nicht der Fall, können psychische, sog. subklinische Leiden (bspw. Angst, Trauer, sinkender Selbst-Wert) auftreten. Bleiben solche Situationen ungelöst oder wird nicht frühzeitig Hilfe in Anspruch genommen, steigt das Risiko für psychische Krankheiten, sog. klinische Symptome. Dies drückt sich bspw. aus in Depression, Angststörungen, Alkoholabhängigkeiten, Essstörungen etc.

Psychische Gesundheit als Basis für Leistungen

Frühzeitig Veränderungen und unbefriedigte Bedürfnisse wahrzunehmen und dann darauf zu reagieren ist wichtig, um die psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Dabei geht es um eine Balance zwischen Krankheits-Prävention und Optimierung der Gesundheit und Leistung. Oder anders ausgedrückt, um die Balance und deren Wiederherstellung im eigenen Leben als Mensch und Athlet –körperlich, seelisch und sozial. Es geht um das Ziel, Athleten eine gesunde menschliche und sportliche Entwicklung zu ermöglichen und deren Wohl­ergehen zu stärken. Dafür hat auch das nähere und direkte Umfeld des Sportlers eine Bedeutung und Verantwortung. Der Athlet ist externen Einflüssen ausgesetzt, wird davon geprägt und ist deshalb nicht alleine verantwortlich für eine gesunde Entwicklung.

Psychische Gesundheit gilt somit als Ressource, um verschiedene herausfordernde Situationen zu meistern und das Wohlbefinden wiederherzustellen. Sie stellt eine wichtige Voraussetzung für die Leistungs­erbringung dar. Als Sportler Hilfe in Anspruch nehmen bedeutet, sich selber zu stärken. Zur Selbstfürsorge und für die Sicherstellung der Leistungsfähigkeit. Dabei steht der Aufbau von Lebenskompetenzen, hilfreichen Strategien, sozialer Unterstützung und Umfeld-Optimierung im Fokus. Das ist und macht stark! Will das nicht jeder Athlet, ja Mensch?

Autorin:
Andrea Jenzer-Berger
Psychologin im Sport, MSc, Mitglied FSP und SASP.
andrea.jenzer@srsonline.ch


Quellen: