
Die 26-jährige Leichtathletin Riccarda Dietsche hat an den Olympischen Spielen in Tokio mit der 4×100 Meter Staffel den vierten Platz erkämpft. Damit schaffte sie in ihrem Sportlerleben den Durchbruch. Trotzdem ist sie nicht Profisportlerin. Ein Interview mit der Rheintalerin über Olympia, ihre Arbeit als Lehrerin und Selektionsnormen.
Fränzi Mägert: Riccarda wenn du an die Olympsichen Spiele in Tokio zurück denkst, welche Gedanken, Bilder und Gefühle steigen in dir hoch?
Riccarda Dietsche: Für mich kommt immer noch das Gefühl von grosser Unsicherheit auf. Bis zum Vorabend unseres Vorlaufes wusste ich nicht mit Sicherheit, ob ich überhaupt rennen darf. Natürlich wusste ich, dass meine Chancen sehr gut standen, aber das letzte Wort hat immer der Coach und daher war es bis am Schluss nicht mehr so klar. Ich befinde mich immer noch im Verarbeitungsprozess, zu realisieren, was ich tatsächlich an den Olympischen Spielen in Tokio geleistet und erreicht habe. Was mich sicher sehr geprägt hat, dass ich spüren und erleben durfte, dass Jesus mit mir am Start stand und mich während dieser ungewissen Zeit getragen hat. Ich konnte dank ihm und seiner Gegenwart das zeigen, was in mir steckte.
Vor kurzem hat das neue Schuljahr begonnen. Du bist zu 50 Prozent als Primarlehrerin tätig. Der Lehrermangel ist zur Zeit überall Thema. Anscheinend ist der Lehrerberuf nicht mehr so attraktiv. Oder wie siehst du das? Wieso arbeitest du auf diesem Beruf?
Meine grosse Leidenschaft ist immer noch die Leichtathletik. Ziemlich pragmatisch gesagt: Ich arbeite zurzeit, damit ich mir meine Leidenschaft finanzieren kann.
Da ich erst drei Jahre auf diesem Beruf arbeite, weiss ich nicht, wie es früher war. Leider kommen für mich persönlich aber viele Aufgaben und Diskussionen zum Vorschein, die einem den Beruf schon zum Verleiden machen können.
Wie viele Stunden pro Woche trainierst du?
Dies hängt davon ab, ob ich mich im Aufbau oder in der Wettkampfsaison befinde. Während dem Aufbau absolviere ich sieben Einheiten in der Woche an ca. 2 bis 3 Stunden. In der Wettkampfsaison sind es ungefähr 6 Einheiten, aber diese von kürzerer Dauer.
Wie kannst du Spitzensport und Beruf unter einen Hut bringen?
Mein Pensum als Primarlehrerin ist ja Teilzeit, dadurch lässt sich das Training relativ gut mit dem Job vereinbaren. Natürlich kommen bei mir die regenerativen Massnahmen eher etwas kurz. Aber für mich ist diese Lösung bereits eine enorme Erleichterung. Ich habe meine ganze Schulkarriere wie alle anderen absolviert. Das hat enorm lange Tage bedeutet, die gut strukturiert sein musste, es blieb nicht mehr viel Zeit für andere Dinge. Heute habe ich wieder etwas flexibler Zeit, diesen kleinen Luxus geniesse ich momentan sehr. Ich muss nicht mehr ständig von A nach B rennen.
Falls du vielleicht mal Profisportlerin wirst, was denkst du würde sich in erster Linie für dich ändern?
Ich werde oft auf dieses Thema angesprochen. Momentan kann ich mir diese Variante schlicht nicht leisten. Daher stelle ich mir diese Frage gar nicht.
Seit du 10-jährig bist, machst du regelmässig Leichtathletik. Weshalb gerade diese Sportart?
Dort, wo ich aufwuchs, war jede und jeder im örtlichen Turnverein. Meine Eltern machten beide Leichtathletik und Sport war schon immer Teil unseres Lebens. Als ich 10 Jahre alt war, durfte ich in den «richtigen» Leichtathletik-Club wechseln. Das war für mich das Grösste! Zuerst habe ich Siebenkampf gemacht. Ich finde, dass die Leichtathletik sehr vielseitig ist und einfach jeder und jede etwas darin findet, was für ihn/sie stimmt.
Wie kannst du mit Tausendstel-Entscheidungen, für oder gegen dich, umgehen? Mit der Tatsache, dass ein Wimpernschlag über die Teilnahme an einem wichtigen Grossanlass entscheidet? Damit, dass du vielleicht diesen Wimpernschlag schneller warst als die gute Freundin, die dann zu Hause bleiben muss?
Mir hilft es, dass die Tausendstel-Entscheidungen immer noch mit der Uhr gestoppt werden und es keine subjektiven Entscheidungen sind. Früher schrammte ich oft um wenige Hundertstelsekunden an den Selektions-Normen vorbei. Das war jeweils sehr ärgerlich. Heute ist die Leistungsdichte in der Schweiz so hoch, dass ich schon einige Male die Norm erfüllt habe und trotzdem zu Hause bleiben musste. Ich denke, mit dem lernt mal im Leistungssport umzugehen – man muss. Und ich bin immer noch im Prozess zu lernen, dass mein Wert nicht von dem abhängt.
Es gibt wohl in jeder Spitzensportkarriere Ups and Downs. Was motiviert dich, in den Downs weiterzumachen?
Ich sah mich jeweils noch nicht am Ende. Bis jetzt hat es sich für mich immer so angefühlt, dass noch Potenzial vorhanden ist und somit eine Leistungssteigerung. Mich fasziniert es, schneller zu werden und mich noch besser in all diesen Prozessen kennenzulernen.
Was steht bei dir als nächstes an?
Die Saisonpause… Ich freue mich sehr darauf, da ich seit letztem Herbst nur etwa zwei Wochen trainingsfreie Zeit hatte. Das ist eine Zeit, wo ich einfach machen kann, wonach mir gerade ist.
Danke Riccarda, für das Interview und möge dich Gott reich versorgen.
Riccarda Dietsche (26), Lüchingen SG
Primarlehrerin und Leichtahtletin (Sprinterin 60m, 100m, 4x100m)
Betreibt Leistungssport, seit sie 10 Jahre alt ist.
Höhepunkte / grösste Erfolge:
SM 2021 Indoor, 60m: 3. Platz
SM 2021 Outdoor, 100m: 4. Platz
World Athletics Relays: Finaleinzug mit der Schweizer 4x100m Staffel
Team EM: Teilnahme mit der Schweizer 4x100m Staffel
Olympische Sommerspiele 2020 Tokyo, 4x100m Staffel: 4. Platz und neuer Schweizerrekord
Riccarda Dietsche, SRF Sportpanorama Dezember 2021: «Befreit laufen»
